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Ein kleiner schmächtiger Junge erblickt das Licht der Welt
Ende der 1940er Jahre in einer kleinen Stadt am linken Niederrhein. Der Zweite Weltkrieg ist seit einigen Jahren vorbei, die Trümmer der zerbombten Häuser sind weitgehend beseitigt und das „normale“ Leben in Friedenszeiten beginnt sich allmählich zu festigen. Flüchtlinge und Einheimische mussten sich irgendwie mit dem knappen Wohnraum arrangieren.
Das mit dem Wohnraum ist so eine Sache. Mein Elternhaus war ein Güterbahnhof mit angeschlossener Gaststätte. Ein Altbau „aus der Vorkriegszeit“ mit 3,80 m hohen Decken, ein Wohnzimmer, eine kleine Küche mit Vorratskammer und Schlafräume unterm Dach. Außerdem gab es eine Waschküche, die nur über den Hof zu erreichen war. Zur Toilette musste man jeweils über einen Flur und durch die Küche der Gaststätte gehen. Wie gesagt, der Wohnraum war knapp und man musste mit dem auskommen, was man als Flüchtling zugewiesen bekam. So ging es auch meinen Eltern.
Meine Mutter hat den langen Weg von Ostpreußen an den linken Niederrhein überlebt. Leider musste sie ihre älteste Tochter auf dem langen Weg zurücklassen, sie starb schlichtweg an Hunger. Immer mehr Männer kamen aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause oder dorthin, wo es die restliche Familie verschlagen hat. So auch mein „alter Herr“ – mein Vater. Aus dieser Wiedersehensfreude heraus erblickte in den Resten des Joseph-Stifts an einem Sonntagmorgen, ein kleiner, schmächtiger Junge das Licht der Welt. Das Joseph-Stift war eines von zwei Krankenhäusern im Ort. Meine Mutter wäre bei der Geburt fast gestorben, aber sie ist eine starke Frau und hat auch das überlebt.
In der Geburtsurkunde ist zu lesen, dass der Weichenwärter Ewald und seine Frau, die Hausfrau Gertrud, einen Sohn bekommen haben.
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Der „Katholische Bahnhof“
Mein Elternhaus war der älteste Bahnhof in dem kleinen niederrheinischen Ort. Er wurde 1882 feierlich eröffnet und verband die evangelische Stadt mit der katholischen Nachbarstadt. An Fronleichnam fuhren die katholischen Bürger mit dem Zug zur Prozession in die Nachbarstadt. Deshalb hieß der Bahnhof im Volksmund nur noch der „Katholische Bahnhof“.
Zunächst gab es, damals das Wichtigste, eine Küche und darin einen alten Kohleherd. Ein Herd mit umlaufender verchromter „Handtuchtrockenstange“, gusseiserner Platte und emailliertem Korpus mit ebenfalls emaillierter Backofentür und anderen Klappen. Einen Kühlschrank gab es noch nicht. In die Küche gelangte man durch das Wohnzimmer. Ein Raum mit rotbraun gestrichenen Holzdielen, 3,80 m hohen, gekälkten Wänden und einem großen, einfach verglasten Fenster. In einer Ecke stand ein kleiner Kanonenofen, der im Winter kaum Wärme spendete. Auf den Holzdielen in der Mitte des Raumes lag ein Teppich. Ach was sage ich Teppich, es war lackierte Dachpappe, Stragula genannt. Ein Sofa, ein Tisch, zwei Stühle und ein Schrank vervollständigten das Zimmer. Im Flur, von dem aus man in die Wohnung kam, stand ein Schrank. Es war noch ein solcher Schrank ohne Schrauben, Nägel oder Möbelbeschläge, nur die Holzkonstruktion hielt ihn zusammen.
Oben – unterm Dach juchhe – waren zwei Schlafzimmer, eine rechts und eine links vom Dachboden. In dem einen Schlafzimmer schlief meine Schwester, die den Krieg überlebt hatte, in der anderen meine Eltern und ich. Es handelte sich mehr um Kammern als um Zimmer, so wie man in der damaligen Zeit in aller Eile einen Dachboden ausgebaut hat. Im Winter war es so kalt, dass sich an den einfach verglasten Fensterscheiben Eisblumen bildeten. Ein kleiner Kohleofen brachte die Temperaturen im Winter nachts nicht wirklich über null Grad. So manche Winternacht habe ich mit Pudelmütze und Handschuhen geschlafen.
Samstags war immer Badetag. Die Waschküche im Anbau des Bahnhofs war nur über den Hof erreichbar. Ein Waschbottich, eine verzinkte eiserne Badewanne und Kohle oder Holz zum Heizen – mehr brauchte man nicht. Zuerst musste der Bottich mit Wasser gefüllt werden. Dann wurde das Wasser mit einem Feuer erhitzt und mit einem Eimer in die Zinkbadewanne geschüttet. Und lief es in dieser Reihenfolge ab: Zuerst durfte die Mutter baden, dann der Vater und zum Schluss die Kinder. Ich war also immer der Letzte, denn vorher war meine Schwester dran. Wer das einmal erlebt hat, weiß ein heutiges, modernes Badezimmer zu schätzen. Aber als Kind kannte ich es nicht anders.
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Schrankenwärterin
1953 kam ich in den Kindergarten. Zum ersten Mal war ich für ein paar Stunden von meiner Mutter getrennt. Aber meine Mutter konnte in dieser Zeit in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Sie war Schrankenwärterin, ein Beruf, den heute kaum noch jemand kennt. Meine Mutti – wie ich sie immer nannte – fuhr dann zweimal am Vormittag mit dem Fahrrad zur einer Schrankenanlage an der nahegelegenen Bundesstraße. Dort musste sie die Schranken von Hand herunterkurbeln und wenn der Zug durchgefahren war, die Schranken wieder hochkurbeln. Mein Vater hatte währenddessen einen Bürojob im Bahnhof, in dem wir auch wohnten. Nach dem Schrankendienst fuhr meine Mutter wieder mit dem Fahrrad nach Hause. Das war manchmal ganz schön anstrengend.
Während mein Vater dort im Büro arbeitete, saß ich ab und zu im Kinderwagen vor dem Büro und manchmal nahm mich der Lokführer samt Kinderwagen mit in den Führerstand der Lok. Die Lok fuhr dann genau zu der Schranke, an der meine Mutter ihren Dienst versah, hielt an und der Lokführer lud mich samt Kinderwagen an der Schranke wieder aus. So blieb meiner Mutter nichts anderes übrig, als Fahrrad und Kinderwagen zu Fuß nach Hause zu schieben.
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Kinderlandverschickung
An meine Kindheit kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. Die Erinnerungen daran stammen meist aus späteren Gesprächen in der Familie. Einige Begebenheiten aus der Kindheit sind aber haften geblieben.
Woran ich mich erinnere? Süßigkeiten gab es kaum. Stattdessen gab es wegen der Unterernährung täglich einen Teelöffel Lebertran. Das Zeug schmeckte ekelhaft. Die einzige Süßigkeit bestand aus einer Scheibe Brot, über die Wasser geträufelt und Zucker gestreut wurde. Das Wasser diente dazu, dass der Zucker nicht vom Brot fiel. Dann wurde die Scheibe Brot zusammengeklappt.
Weil ich so ein schmächtiges Kerlchen war, wurde ich auch vom Hausarzt für 6 Wochen zur Kinderlandverschickung nach Borkum geschickt. Das war eine schlimme Zeit für mich, ganz allein ohne meine Eltern.
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Einschulung
Weil ich so klein war, wurde ich erst mit fast 7 Jahren eingeschult. Man muss man sich das einmal vorstellen. Wir waren 54 Kinder in der 1. Klasse, die alle von Fräulein Backhaus im Zaum gehalten wurden. Da herrschte Zucht und Ordnung.
Ein Schulwechsel zum Gymnasium nach dem 4. Schuljahr scheiterte am fehlenden Geld der Eltern, denn alle Schulmaterialien mussten damals von den Eltern selbst bezahlt werden. Und allein der Atlas kostete schon über 50,- DM.
Bis zum Beginn des 5. Schuljahres besuchte ich die evangelische Volksschule im Ort. Dann zogen meine Eltern in die nächstgrößere Stadt um. Es war eine neugebaute Werkswohnung der im neuen Wohnort chemischen Fabrik, in der mein Vater damals arbeitete.
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Gemeinschafts-Volksschule
Ich hatte das Glück, nach dem Umzug meiner Eltern vom Geburtsort in die Nachbarstadt auf eine Gemeinschaftsschule gehen zu können. Gemeinschaft bedeutete in diesem Fall, dass dort Evangelische und Katholische, Jungen und Mädchen gemeinsam lernten. Das war 1961 nicht unbedingt üblich. Wir waren 8 Jungen und 16 Mädchen in der Klasse. So etwas prägt.
Die Klassenlehrerin war Fräulein Oberhoff (damals wurden alle unverheirateten Frauen noch mit „Fräulein“ angesprochen), eine mehr freundliche als strenge Lehrerin, ganz anders als in den ersten Schuljahren. Die Lehrer waren, im Nachhinein betrachtet, sehr gute Pädagogen. Sie vermittelten uns das nötige Grundwissen, die Stärkung der Persönlichkeit und die Selbständigkeit mit einer ungezwungenen Fröhlichkeit.
1962 bekam ich mein erstes Fahrrad – ein „Rabeneick“ mit einer 3-Gang Torpedo-Schaltung. Im letzten Schuljahr haben wir jeden Monat eine Klassenfahrt gemacht, nichts Großes, meistens nur eine Radtour. Das hat die Klassengemeinschaft sehr gestärkt. Die Abschlussfahrt ging für 3 Tage nach Burg Altena in die erste Jugendherberge der Welt, die von Richard Schirrmann, dem Namensgeber der Schule, gegründet wurde.
Im letzten Schuljahr war ich auch als Schülerlotse im Einsatz, um die Schüler der unteren Klassen über den Zebrastreifen an der stark befahrenen Straße vor der Schule zu leiten.